Opfer und Täter

 
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Aus dem Papiergespräch mit meiner  Großmutter zum Thema Schuld

OPFER UND TÄTER

Die Frage nach den Ursachen für ihre Suizidversuche führte meine Mutter auf die Spur der Schuld. Zu den Anfängen ihres Lebens und damit zwangsläufig zu ihrer eigenen Mutter.

SCHULD – was für ein Wort! 

Es begleitete mich von klein an und war mir unheimlich. Schien mir unendlich weit, unendlich tief. 

Grau in Grau. Diffus und formlos -  wie Dampfbadnebel. Du suchst Halt und greifst ins Leere. Schuld erschafft ein eigenes Zeitempfinden, es ähnelt jenem von Träumen. Vergangenes wird gegenwärtig und umgekehrt. Alles verbindet sich mit allem. Du musst lernen, Schuld richtig zu verwenden, sie zu gestalten. Dann erscheint sie als deine Mutter, als dein Vater, als dein Mann…..

Doch damit allein ist es noch nicht getan. Schuld verlangt handfeste Begründungen. Sonst verliert sie die Form, kehrt zurück in den Nebel der Formlosigkeit, hüllt  Dich ein und schon hast Du sie selbst übernommen. Lässt Du sie aber für Dich arbeiten, wird sie zum Anker in der Bodenlosigkeit des nicht Wissens. Du stehst sicher auf ihr, sie gibt Struktur und Halt. Kann auch süchtig machen, braucht Nachschub.

Für den Fall, dass sich Eigenverantwortlichkeit melden sollte.


SCHULD als Drehtür

die das Leben meiner Mama lenkte. 
Sie selbst betätigte keine Schnalle, drückte keinen Hebel. Wurde ausschließlich durch jene bewegt, die ein- und aus stiegen. Die Schuldigen.

Aus dem Blick in den Rückspiegel deutete sie das Leben ihres Bruders ausschließlich von seinem Suizid aus. Sein unglückliches Leben barg die Antworten auf ihr eigenes. Und was immer die Geschwister auch unterschieden hat, eines war ihnen gemeinsam: sie hatten Dich, meine Großmutter, als Mutter.  Du warst die erste Passantin in der Drehtür ihres Lebens.
Du warst nicht für deine Kinder da, hast dich scheiden lassen, einen anderen Mann geheiratet. 
Du hast eine Ausbildung gemacht, die Kinder Deiner Mutter überlassen.
Du hast Dich dafür eingesetzt, dass meine Mama den Mann heiratete, der ganz und gar nicht zu ihr passte. Nur weil er studiert hatte und gut verdiente. 
Die Liste ist unvollständig, ließe sich beliebig fortsetzen.

Ich habe Mamas Erkenntnisse in meinem Inneren abgespeichert. Eingebrannt.
Dass jemand Schuld tragen musste – das wurde mir zur Gewissheit. Es gab Täter*innen und Opfer.
Mama war Opfer.

Heute noch, Jahrzehnte danach, sehe ich Dich vor mir, als ich Dich, meine Großmutter, konfrontiert habe, mit Deiner Schuld an Mamas Unglück. Beinhart und unbeugsam, mit dem besserwisserischen Gehabe der Fünfzehnjährigen bin ich vor Dir gestanden, bereit Deine Rechtfertigungen zurückzuweisen. Doch Du hast Dich nicht gerechtfertigt. Du hast zu mir aufgeschaut aus Deinem Polstersessel. Du hast  mir direkt in die Augen geschaut und deine Hände im Schoß hin und her bewegt, als würdest du dort eine Antwort ertasten. Und dann, nach langem Schweigen Deine Worte:  

„Ich hab’s nicht anders gewusst“. 

Es tut gut, dieses Papiergespräch mit Dir. Auch Jahre nach dem Tod meines Sohnes kann es mir immer noch passieren, dass ich so vor mir selbst stehe, wie ich damals vor Dir gestanden bin. Beinhart und unbeugsam, Klägerin und Angeklagte in einer Person. Dann sehe ich Dich vor mir, mit diesem Blick und ich höre diesen einfachen Satz,  der mich damals schon innehalten ließ.  Der mir in Erinnerung ruft, dass ich alles getan habe, was mir zum jeweiligen Zeitpunkt möglich war.

 
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