Leben mit dem Tabu

 
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Es ist nie zu spät, unsere Vorurteile aufzugeben; 
auf keine Ansicht, keine Lebensweise, kann man sich ohne Prüfung verlassen.
— Henry David Thoreau

Mitgehangen – mitgefangen?

Tabus verweisen auf kollektive Ängste vor dem, was die gesellschaftliche Ordnung  nicht brauchen kann, was ihr Funktionieren in Frage stellen oder gefährden könnte.  Darüber reden wir nicht, wir sehen es nicht  und wir wollen auch nichts davon hören.

Vom Tod, zum Beispiel,  dem einzig Absoluten, was jedem von uns passiert. Und erst recht nicht vom Suizid.  Für jene, die mit ihm zu tun haben, egal ob überlebende Betroffene oder Angehörige, gilt: mitgehangen – mitgefangen!

Das Tabu annehmen oder brechen?

Ich kenne beide Varianten und viele Nuancen dazwischen. Die Suizidversuche meiner Mutter waren selten Thema in meinen außerfamiliären Beziehungen. Wenn überhaupt die Rede darauf kam, dann ging der Stimmungspegel deutlich runter und Hilflosigkeit breitete sich aus.

Das änderte sich im psychosozialen Umfeld meiner Ausbildungen. Im geschützten Rahmen professioneller Empathie verlor das Tabu an Macht. An seine Stelle traten Interesse und Gesprächsbereitschaft. Das Tabu wurde nicht radikal gebrochen, aber gelockert.

Wer wird geschützt und wovor?

Therapeutische Angebote befähigen dazu, sich der Wirkkraft des Tabus zu entziehen. Gleichzeitig arbeiten sie ihm in die Hände.  Der Suizid bleibt dort, wo er hingehört – in der Behandlung. Und mit ihm alle, die kontaminiert sind. Schuld- und Schamgefühle von Angehörigen werden als persönliche Krisen infolge traumatischer Erfahrungen behandelt. Erfahrungen mit dem Tod werden hinter verschlossenen Türen unter dem Siegel der Verschwiegenheit aufgearbeitet.  Idealerweise finden sie einen Platz im Inneren der Person, wo sie nicht mehr wehtun.

Mut tut gut

In den Erfahrungen mit und durch den Suizid  steckt jedoch noch mehr Potential, das kaum gewürdigt wird. Es fällt dem Tabu zum Opfer.

„Das ist sicher sehr schwierig, Du hast viel durchgemacht, wie hast Du das nur ausgehalten?“ Diese Reaktionen kenne ich sehr gut. Natürlich, das stimmt! Doch es gibt auch eine andere Seite. Versuche ich dann aufzuzeigen, dass und wie mich die Erfahrungen mit diesem besonderen Tod  auch bereichert haben, ernte ich Erstaunen und Skepsis. „Aha! So kann man das auch sehen!“ Kollektive  Glaubenssätze und Erwartungen zu enttäuschen, sich gegen sie zu stellen braucht Kraft und Mut. Generell und besonders dann, wenn es um den Tod geht. Umso wichtiger ist es, dran zu bleiben und sich den Zweiflern zuzumuten, denn

Teilen macht frei

Sich selbst und andere. Teilen heißt,  Erfahrungen gemeinsam wieder zu beleben und nicht nur über sie zu reden.

Erlebnisse mit Tod und Suizid wirken im Inneren weiter, tragen in sich den Keim für Neues.  Auch dafür, das Tabu neu zu beleuchten und die Seite frei zu legen, die in der einseitigen Interpretation des Begriffs verloren gegangen ist, nämlich „unverletzlich“, „heilig“, „unberührbar“. 

Neutral auf den Suizid zu schauen, frei von der generellen Zuschreibungen an den Tod als Gegner des Lebens ist Prävention in vielfachem Sinn.