Blumen und Schweigen

 
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Ein Brief an meine Großmutter

Onkel H. war nicht das erste Deiner fünf Kinder, das Du geboren und begraben hast.

Dreißig Jahre vor ihm war Dein erstgeborener Sohn E. an Diphterie gestorben. Er ist nur ein Jahr alt geworden. Seine Schwester G. verstarb ein Jahr später an Kinderlähmung. Sie ist drei Jahre alt geworden. Ihr Grab in derselben Reihe wie später das von Onkel H. Ich habe es immer mit Dir besucht und gepflegt.

Ganz klein war es. Fünf Begonien.
Handfeste Krankheiten, klare Ursachen.
Natürlicher Tod. Abgeschlossen.

Mitten im Krieg, nach dem Tod von G. und E., hast Du Dich zur Hebamme ausbilden lassen. Geburt und Tod – natürlich, sie gehören zusammen. Der natürliche Tod, die natürliche Geburt. Tunnel ist Tunnel. Augen zu und durch. Dann ist alles vorbei. Vielleicht auch alles neu?

Mit dem Tod von Onkel H. war nichts vorbei. Aber vieles neu. Die Fragen, die aus seinem Grab aufstiegen. Sie rankten sich um jeden Grabbesuch, bedrängten uns. Griffen ineinander wie Schlingpflanzen. Selbstmord war eine Sünde, Onkel H. ein Mörder? Wer trug die Schuld? Wer wurde dafür wann und wo und wie bestraft? Keine Antworten. Schande und Schweigen.

Die Fragen blieben.
Wurden über die Gestaltung des Grabes abgehandelt.
Welche Blumen? 
Begonien – was sonst?
Welche Farbe? 
Wer sollte entscheiden? 
Wer hatte mehr gelitten unter seinem Tod? 
Welche hätte er selbst gerne gehabt?
Die Lösung: eine Grabplatte. Granit poliert. Pflegeleicht.

Die Fragen blieben. 
Versteinert, zugedeckt.
Füllten alle Räume zwischen uns. Zwischen uns und den Anderen.

Der Selbstmord blieb und mit ihm das Stigma von Schuld, Scham und Schweigen.