Gib mir eine Grenze, an der ich gehen kann

 
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Alles gestorben – alles aufgelöst – alles ungültig – alles sinnlos – alles falsch gemacht.

Alles wie gehabt: Schuld, Scham, Sprachlosigkeit.
So bin ich in der Welt als alles vorbei ist, als es wirklich nichts mehr zu tun gibt.

Einmal mehr kann ich verstehen, dass Du geschwiegen hast. 
Nur im ersten Schock? Als Du mit dem Rad unterwegs warst und Dich Dein Bruder, der Postmeister, angehalten hat, um Dir die Nachricht vom Tod Deines Sohnes zu überbringen. Als Du wortlos wieder aufgestiegen und weiter gefahren sein sollst.

Schweigen über das, was sich nicht in Worte fassen lässt. 
Schweigen, weil das gesprochene Wort so wenig sagt wie der vom Atem verlassene Körper.
Ich entdeckte im Schweigen die Sprache der Stille, die im Herzen wohnt. 
Sie war gleich da bei der ersten Begegnung mit meinem toten Sohn. Hat mir ihre Botschaft überbracht, unmissverständlich mitten durch den Schmerz und gleichzeitig immun gegen ihn:

„Es ist nichts. Es ist wie es ist. Es ist nichts passiert.“
Darüber habe ich geschwiegen. Wem sollte ich das sagen?

Unbeholfenheit im Kontakt mit der körperlosen Anwesenheit.
Sie ist spürbar, sichtbar, hörbar.
Doch wie reagieren? Womit? Die Funktionen meiner fünf Sinne ergeben keinen Sinn, fallen ins Leere. 

Die neue Kommunikation zu lernen – eine Herausforderung.

Der Geist wendet sich an den Geist – also muss ich mit meinem Geist in einen guten Kontakt kommen, ihn schulen für Wahrnehmungen, die unpassend scheinen, mitunter als Halluzinationen, als Einbildungen, als Abwehr der Realität klassifiziert werden.

Zunächst erst einmal an sie zu glauben, ohne sie einem der zahlreichen Trauerphasenmodell zu opfern – eine der ersten Übungen auf dem Weg zu mir selbst.

Ich fasste Zutrauen zu jener Stille, die wir oft mit Worten zu füllen versuchen. Weil wir sie für Leere halten, die aus dem Verlust, aus der Abwesenheit des Verstorbenen entstanden ist. Darüber reden soll helfen. Ein Glaubenssatz, der sich hartnäckig hält. Stimmt, wenn er nicht zum Dogma erhoben wird.

Dein Schweigen, das so vielsagend war und nichts preisgab. 
Vielleicht steckte auch in ihm die Kraft jener Stille, die alle Worte in sich trägt und die – weil noch nicht gefunden, nicht formuliert - geduldig im Schweigen verharren? 

Momente der Leere – gedankenverloren und bewegungslos. Winzige Inseln des inneren Friedens. Spontanes Innehalten, Sein mitten im inneren Aufruhr.
Stellten sich nicht ein, wenn ich N.´s Grab besuchte.
Ich war oft dort, viel zu oft. Doch das wusste ich damals nicht. 
Die Grabesstille brachte mir keinen Frieden. Sie hallte wider vom Lärm des „Warum?“

„Warum hat er das getan?“
„Warum hat es niemand geahnt?“
„Warum passiert mir das wieder?“

Name und Daten am Holzkreuz.
Anfang und Ende einer Zeitspanne, die mich als schlechte Mutter ausweist. 

Antworten?
Viele. Sehr viele. Zu viele. 
Keine einzige brachte Klarheit. 
Wie denn auch? 
Geboren aus dem „hätte ich“, „wäre ich“, „hätten wir doch nicht“!

Es tut gut, Dir das zu sagen. Weil ich sicher bin, dass Du ähnliche Erfahrungen gemacht hast. Die gut gemeinten Bemühungen von Freundinnen, mich frei zu sprechen von meinem Beitrag am Geschehen, ließen mich verstummen. Verbannten meine Schuldgefühle in den Untergrund, wo sie noch heftiger um Anerkennung kämpften.

Schuldgefühle, die unbarmherzigen Dienerinnen des wenn – dann, hielten mich gefangen im Dickicht von Vermutungen und Interpretationen, verhöhnten den Frieden als Illusion.
Nach außen hin untätig, wie gelähmt, im Inneren eine nie gekannte Intensität zwischen den Fluten schmerzhafter Fassungslosigkeit und der Ebbe friedlicher Leere.

Die Leere zulassen, die Stille – das tat gut. Sie führten zum Frieden mit mir selbst.