Aufbruch in die Vergangenheit

 
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Eine Woche nach der Verabschiedung von N. brechen sein Vater und ich auf nach Griechenland. Erstmals mit einem Wohnmobil, das wir lange vorher gemietet hatten.
Ein Aufbruch im Zwielicht der Ausnahmesituation: das Reisen mit und der Alltag im Wohnmobil waren neu, spannend, auf gute Art aufregend, Kraft gebend. Doch vertraute Orte und Plätze ließen Erinnerungen hochkommen, produzierten alte Gefühle und reduzierten uns darauf, Eltern eines Selbstmörders zu sein. 

Anders als geplant zieht es uns auf der „alten Strecke“ in unsere “alte griechische Heimat” – dorthin, wo wir fast dreißig Jahre lang unsere Sommer verbracht hatten.

Wir schwimmen in „unserem“ Meer. Wider Erwarten fühlt es sich falsch an. In derselben Art unstimmig wie das Verweilen mit dem toten Körper. So, als sagte „jemand“ oder „etwas“: „Du bist am falschen Ort. Hier hast Du nichts zu suchen, wir gehören nicht mehr zusammen!“  

Ich will nur mehr weg.

Eine Nacht müssen wir noch hier verbringen, um die Fähre abzuwarten, die uns an unser ursprüngliches Ziel bringen wird. Eine Nacht in der ersten Hitzewelle dieses Sommers. Tagsüber 45 Grad im Schatten, nachts keine spürbare Abkühlung. Die Luft steht still, kein Blatt bewegt sich. Wir sitzen vor unserem „Haus“ und starren auf das Meer. Wie eine Eisfläche liegt es vor uns – ähnlich erstarrt wie wir selbst. Vielleicht sollten wir es doch noch einmal mit Schwimmen versuchen? Der bloße Gedanke erfüllt mich mit Widerwillen.

Gefangen im Chaos widersprüchlicher Empfindungen und dem aussichtslosen Versuch, sie zu ordnen.

Die Kraft der Stille - wo ist sie? Was kann ich tun? Im Hals verknoten sich Tränen, verstopfen ihren eigenen Kanal.

Hektisch beginne ich in meinem Handy nach dem Foto zu suchen, das N. einen Tag vor seinem Tod zeigt. Ins Auge fallend, jedes Mal neu, wenn ich sein Foto betrachte: die große Ähnlichkeit mit seinem Vater und dessen Brüdern.

„Ein echter Grieche“, höre ich Dich sagen. Das hast du oft gesagt, wenn Du die beiden nebeneinander gesehen hast. Und es stimmte deshalb, weil sein Vater der einzige Grieche war, den Du gekannt hast. Das Foto zeigt ihn noch „griechischer“: sein ursprünglich dunkelblondes Haar war dunkelbraun geworden, seitdem du ihn das letzte Mal gesehen hast, damals war er siebzehn. Jetzt umrahmte ein beinahe schwarzer Bart seine vollen Lippen und verstärkte– zusammen mit dem kräftigen Wuchs seiner Augenbrauen - den Eindruck des Fremdländischen. Die grünen Punkte in seinen großen, weit geöffneten, dunkelbraunen Augen sind auf dem Foto nicht zu erkennen

Als ich jetzt beim Betrachten des Fotos seinen Blick direkt auf mich gerichtet fühle, erinnere ich meine Verwunderung darüber, wie bereitwillig er sich hat fotografieren lassen. Ob er wusste, dass es die letzte Gelegenheit war, ihn in einem Bild festzuhalten?
Wie oft habe ich es schon betrachtet, dieses Foto? 
Nein – über die Körperlichkeit erfahre ich nichts mehr. Das war doch eine der ersten Erkenntnisse unmittelbar nach seinem Tod.